Jugendwerkhöfe in der DDR
ein dunkles Kapitel sozialistischer Heimerziehung


 

 

Widerstand in Jugendwerkhöfen

Die Erziehung in der DDR war eine wichtige Angelegenheit und wurde weitestgehend vom Staat bestimmt. Alle Bürger sollten „vollwertige Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft“ werden, deshalb war das eigenständige Denken und Handeln unerwünscht. Zuwiderhandelnde Jugendliche kamen oft in die Jugendwerkhöfe und auch dort wurde jeder Widerstand schwer bestraft. Zunächst sei zu definieren, was Widerstand ist:

Widerstand (=Gegenwehr) ist eine Handlung, mit der man sich gegen jemanden oder etwas widersetzt.

Gab es in den Erziehungsheimen der DDR Widerstände? Haben es die Jugendlichen geschafft, trotz strenger und demütigender Strafen und Misshandlungen, Widerstand zu leisten? Im Zuge der Recherchen fällt auf, dass es kaum Berichte über Aufstände in den Jugendwerkhöfen gibt. Es wurde vom JWH Ludwigsfelde im September 1959 von einer „Heimrevolte“ berichtet, die eine Massenentweichung von „ca. 50 Jugendlichen“ zur Folge hatte. Diese waren „aus Protest gegen eine falsche Maßnahme“ aus dem Werkhof geflohen. So hieß es in einem amtlichen Schreiben. Ein ehemaliger Erzieher berichtete jedoch von „chaotischen Zuständen“ in jenen Tagen. Die ca. 200 Jugendlichen hatten sich gemeinsam gegen Willkür und Selbstherrlichkeit, verbunden mit menschenunwürdigen Maßnahmen der Heimleitung, aufgelehnt. Die Ausschreitungen seien nicht mehr kontrollierbar gewesen und mit Steinen, Spaten und Werkzeug bewaffnet und mit ausreichend Proviant versorgt, seien die Jugendlichen ähnlich einer Armeeeinheit in die umliegenden Dörfer gegangen. In Gräben und Unterständen konnten sie Unterschlupf finden und folgten keineswegs den Anweisungen der Heimleitung. Ihre Rebellion ging soweit, bis eine Polizeihundertschaft den Widerstand niederschlug, so der ehemalige Erzieher.

Solche Ereignisse waren allerdings selten, denn den Jugendlichen war eine freundschaftliche Kontaktaufnahme untereinander war nicht gestattet. Zudem kämpfte jeder der Insassen für sich, oft gab es untereinander Prügel und Hass, da immer die ganze Gruppe bestraft wurde, wenn jemand beim Sport versagte oder seine Arbeit nicht richtig ausführte. Gruppenzusammenhalt existierte meist nicht, so dass ein gemeinsamer Aufstand kaum zu organisieren war. Die meisten so genannten Durchgangsheime waren nicht verschlossen und man konnte „leicht“ fliehen. Trotzdem nutzten einige diese Chance nicht. Die Jungen und Mädchen waren oft unterschiedlich und fügten sich mal mehr, mal weniger dem „Kollektiv“. So wollten sicherlich viele einfach nur ihren Alltag durchstehen, ohne die Regeln zu brechen. Sie erhofften sich, dass sie so schneller wieder frei waren. Wie man am oben genannten Beispiel sehen kann, wurde alles daran gesetzt Regelbrechungen und Ausschreitungen niederzuschlagen. Das wussten die Insassen der Jugendwerkhöfe und sie kannten die Grausamkeit, die viele Erzieher an den Tag legten und natürlich wussten sie, welche Strafen ihnen drohten, wenn sie erwischt würden. Durch die Einsamkeit und Misshandlungen wären viele gar nicht mehr in der Lage gewesen, einen Aufstand zu planen und durchzuführen. Man verstand es in den Heimen, die Psyche der Kinder und Jugendlichen so zu zerstören und zu manipulieren, dass sie aufhörten zu denken und sich ohne Widerstand den Regeln zu unterwerfen. Noch schwieriger wurde eine Flucht in dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Dort kamen diejenigen hin, die eine Flucht gewagt haben oder in einer anderen Art und Weise einen schweren Regelverstoß begangen haben. Die Zustände waren dort ähnlich wie im Gefängnis, sogar schlimmer. So war der berüchtigte Geschlossene Jugendwerkhof Torgau eine Schreckensvorstellung für die Jugendlichen in den Durchgangsheimen. Trotzdem haben Unzählige versucht aus den Fängen der Spezialheime zu entfliehen, doch der größte Teil scheiterte und wurde nach Torgau gebracht.

Jedoch fanden die Insassen andere Möglichkeiten, sich den Regeln zu widersetzen. Oft steckte der Gedanke der Rebellion und Provokation dahinter. Die Jugendlichen schluckten oft Nägel, Nadeln oder Schmierfett, damit sie für ein paar Tage ins Krankenhaus kommen können, was eine kurzzeitige Flucht aus den Mauern der Jugendwerkhöfe bedeutete. Inschriften auf Zellwänden und Pritschen zeigten die Ausweglosigkeit und Verzweiflung der Jugendlichen, die aber auch oft in Wut und Rebellion umschlug. Ein erschreckendes und leider viel zu oft verwendetes Mittel zu fliehen, waren Suizidversuche. Die Jungen und Mädchen sahen keine Auswege und wussten, dass sie auf andere Weise die Qualen beenden können. So blieb für viele nur der Selbstmord.


Zelleninschrift: "Heute versuche ich mich umzubringen. Weihnachten und Silvester bin ich lieber tot als hier."

In Torgau erhängte sich am 29. April 1988 der 17-jährige Steve B. mit seinem Hemd am Fenster der Zuführungszelle. Zwei Tage zuvor war er eingeliefert worden und es waren bereits Selbstmordversuche in seiner „Heimakte“ vermerkt. Trotzdem wurde den Erziehern an dem „besonderen Vorkommnis“ keine Schuld beigemessen, das es ihren Aussagen nach in Torgau keine Anzeichen dafür gegeben hätten. Trotzdem wurden danach die Zellen „sicherer“ gemacht, indem man zum Beispiel die Handgriffe der Fenster in den Arrestzellen entfernte.

Und trotz der strengen Sicherheitsvorkehrungen gab es immer wieder Fluchtversuche, wie im Jahr 1979. Der 17-jährige Klaus floh während seines Rücktransports in seinen Stammjugendwerkhof Freital. Er gab an, sich übergeben zu müssen. Als man dann die Autotür öffnete, rannte er weg und ertrank in der Elbe.

1982 legte der 16-jährige Rainer F., der schon vorher mehrmals androhte, sich umzubringen, einen Brand im Krankenzimmer, bei dem er selbst verbrannte. Gerettet konnte er nicht werden, so die Erzieher. Er habe die Tür verschlossen. Fraglich bleibt, ob man ihn nicht retten konnte oder ihn vielmehr nicht retten wollte.

Die tiefe Verzweiflung der Jugendlichen wurde deutlich bei einem sehr erschreckenden Vorfall 1989. Mehrere Jugendliche wollten fliehen und während sie ihre Flucht planten, schlug einer vor, man solle ihn umbringen und an das Fenstergitter hängen. Wenn dann ein Erzieher durch den Spion guckt und voller Empörung und Schock in das Zimmer kommt, könne er von den restlichen Jugendlichen überwältigt werden, so dass sie die Schlüssel an sich nehmen können. Tatsächlich fingen zwei Jugendliche an, den „Freiwilligen“ zu würgen, bis er bewusstlos am Boden lag und sie von ihm abließen. Vor dem zweiten Versuch wurde ihr Vorhaben dem Erzieher gemeldet.

Diese erschreckenden Beispiele zeigen, wie verzweifelt die Jugendlichen in den Jugendwerkhöfen und besonders in Torgau waren. Die einzige Möglichkeit aus dieser „Hölle“ zu kommen, war für sie Selbstverletzung oder Selbstmord. Sie hatten keine Wahl. Für jeden Regelverstoß, für jeden kleinen Widerstand, sei es nur einmal unerlaubt Reden, wurde man hart bestraft und jeder wusste das. Es gab keine Ausnahmen. Bei der Arbeit und beim Sport musste jeder mitziehen, egal ob er noch genug Kraft hatte. Würde er aufgeben, hätte die ganze Gruppe darunter gelitten und das bekam er dann auch zu spüren, indem seine Mitinsassen ihn in der Nacht schlugen und misshandelten. Widerstand ausgeschlossen. Man hatte sich dem Kollektiv zu fügen.

Und so ergeht es auch der 14-jährigen Anja aus dem Buch „Weggesperrt“ von Grit Poppe. Sie versucht sich immer wieder gegen die strengen Regeln und Erziehungsmaßnahmen in den Jugendwerkhöfen zu widersetzen. Auch ihre Freunde Gonzo und Tom können und wollen sich mit ihrer Situation nicht abfinden.

Schon in der Schule will sich Anja dem sozialistischen System nicht fügen. Während die Klasse zehn Vorteile des Sozialismus aufschreiben soll, fallen Anja zwar ein paar Vorteile ein, wie „keine Arbeitslosigkeit, geringe Mieten, […]“ (S.13), doch sofort möchte sie auch die Nachteile aufschreiben: „Bekommt man Zusatzpunkte, wenn man auch die Nachteile aufschreibt?“ (S.13) Die Klasse lacht darüber. Anja und einer ihrer Mitschüler liefern sich einen Wettkampf darüber, wer die meisten Provokationen hervorbrachte. Auch Schwänzen gehört zu ihrem Widerstand. Die Elterngespräche, die daraus folgen, weiß sie gekonnt zu umgehen. „Ein angedrohtes Elterngespräch umging Anja, indem sie ihrem Klassenlehrer einen falschen Termin mitteilte – ihre Mutter war nicht zu Hause und natürlich öffnete Anja nicht. Während ihr Lehrer klingelte, klopfte und rief, lauerte sie hinter der Tür und presste sich die Hand auf den Mund, um nicht laut zu lachen.“ (S.13-14) Es zeigt sich, dass es für Anja mehr ein Spaß ist, zu rebellieren.

Im weiteren Verlauf scheut Anja sich nicht, auch mal den Mund aufzumachen. So zum Beispiel während ihres Verhörs, nachdem sie und ihre Mutter festgenommen wurden. Als man möchte, dass Anja sich zu dem „Fehlverhalten“ ihrer Mutter äußert, reagiert sie trotzig: „Anja hob trotzig den Kopf. ‚Meine Mutter hat nichts Schlimmes getan‘, sagte sie leise, aber bestimmt.“ (S.25) Während ihres Aufenthaltes im ersten Durchgangsheim fällt Anja schon „negativ“ auf. Sie schmuggelt Brot für Gonzo, gerät mit einer Mitinsassin zusammen, spricht manchmal unerlaubt und wird auch schließlich von dort weggebracht. In dem zweiten Heim geht es härter zu und dass gefällt Anja nicht. Sie versteht nicht, warum man ihr das antut und sie will es so nicht akzeptieren. Also plant sie ihre Flucht und zieht sie tatsächlich durch. „Die Tür öffnete sich. Die Nachtwache kam hereingeschlichen. Eine alte Frau, mindestens sechzig. Anja lächelte grimmig unter ihrer Bettdecke. Sie wusste nicht, wie die Frau hieß, aber sie nannte sie in Gedanken Letzte Hürde. Frau Letzte Hürde kam herein, schaute sich um und verschwand wieder. Kein Schlüsselgeräusch.“ (S.109-110) Nach ihrer Flucht findet Anja Unterschlupf bei ihren Verwandten, doch sie wird wieder geschnappt und nun droht ihr der Einzelarrest. Dort fängt sie an, Gedichte von Rainer Maria Rilke zu lesen. Das ist natürlich verboten, aber Anja kann dadurch in eine Traumwelt flüchten und denkt sich den Panther, der in einem Gedicht vorkommt, als ihren Beschützer. Er kommt besonders später in Torgau in der Arrestzelle zum Einsatz: „Am zweiten oder dritten Tag gesellte sich der Panther zu ihr. Sie war erfreut ihn zu sehen und redete mit ihm. Auch die Gedichte waren wieder da, manchmal flüsterte sie die Zeilen in den Raum hinein.“ (S.244) So leistet sie im Kopf Widerstand und lässt nicht zu, dass sie in den einsamen Stunden verrückt wird. Trotz, dass man sie schlecht behandelt und sie oft verzweifelt ist, hat Anja die Kraft erneut zu entweichen. Nachdem sie nach einem schweren Sturz im Krankenhaus liegt, wird sie zwar von einem Erzieher überwacht, doch kaum ist der eingeschlafen, nutzt Anja ihre Chance. Sie will und kann nicht mehr länger in Torgau bleiben. Sie will einfach frei sein. „Anja rannte. Sie lief einfach weg, Hals über Kopf, als sei der Teufel hinter ihr her. Und gewissermaßen war er es ja auch. Sie rannte und sah sich dabei immer wieder um. Sie konnte einfach nicht glauben, dass es plötzlich so einfach war.“ (S.269) Anja gibt nicht auf und schafft es bis nach Leipzig, wo sie Tom wiedertrifft. Gemeinsam nehmen sie an den Montagsdemonstrationen teil und das bildet den Höhepunkt ihres Widerstandes. Sie haben den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau überstanden und wollen nun weiter kämpfen. „‚Demokratie – jetzt oder nie!‘ , hörte Anja eine Stimme neben sich. Es war Toms Stimme. Auch Anja rief die Sprüche nun mit. ‚Keine Gewalt! Keine Gewalt!‘ Und immer wieder: ‚Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!‘“

Auch Anjas Freundin Gonzo, die sie an ihrem ersten Tag im Durchgangsheim kennenlernt, fügt sich nicht dem „Kollektiv“. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie alles daran gesetzt, zu rebellieren. Für Gonzo ist es die größte Hoffnung ins Krankenhaus zu kommen. Deswegen trinkt sie Putzmittel oder schluckt Schrauben. Schlimmer noch, sie verletzt sich selbst, in dem sie sich mit einer Scherbe schneidet: „Gonzo zuckte mit den Schultern. ‚Bisschen mit `ner Scherbe geschnippelt. Aber fürs Krankenhaus hat`s nicht gereicht, leider, leider. Vielleicht beim nächsten Mal.‘“ Sie will um jeden Preis entkommen. So ist sie schon mehrmals entwichen, wie zum Beispiel während ihres Transports vom Durchgangsheim in den Jugendwerkhof: „Sie hatte auf dem Transport vom Durchgangsheim zum Jugendwerkhof die erste Gelegenheit zur Flucht genutzt und war ihrer Zuführerin entwischt. Allerdings wurde sich schon bald an einem Bahnhof von der Polizei aufgegriffen.“ (S.236) Widerstand leistet Gonzo auch, indem sie nachts Lieder singt. Lieder, die sich bewusst gegen den Sozialismus und die Jugendwerkhöfe richten. Dafür wird sie immer wieder bestraft. Doch Gonzo lässt sich nicht unterkriegen, auch wenn sie unter dem Erziehungssystem in Torgau sehr leidet. Sie ist Misshandlungen ausgesetzt: „ ‚Geschrien‘, wiederholte Gonzo dumpf und runzelte die Stirn. ‚Kann sein, ich weiß nur noch, dass sie mich gepackt haben, als ich nicht mitgehen wollte. Arm verdreht, an den Haaren gezogen, das ganze Programm… Dann haben sie mich nach unten verschleppt in den Keller. […]“ (S.256) Doch Anja weiß, wie man Gonzo wieder aufmuntern kann. Gemeinsam singen sie:

„Meine Freundin starb in einer fürchterlichen Nacht,

nur der Mond am Himmel, der hat über sie gewacht.

Erst am Morgen nahm man ihr die Scherbe aus der Hand.

Ich verstand, ich verstand, ich verstand, ich verstand –

sie kommt nie wieder.


Wenn du dann hier rauskommst, dann erkennt dich keiner mehr,

du siehst anders aus und du bist so anders als vorher.

Warum sind sie grausam, warum sperren sie uns ein?

Ach, lass sein, ach, lass sein, ach, lass sein, ach, lass sein –

es geht vorüber,

ach, lass sein, ach, lass sein, ach, lass sein, ach, lass sein –

es geht vorbei.“ (S.255-256)


Diese gemeinsame Rebellion schweißt die beiden noch mehr zusammen und sie fangen an über Flucht zu reden. Gemeinsam stellen sie sich vor, wie es wäre und was sie machen würden, würde die Flucht gelingen: „Wenn ich hier rauskomme, stecken sie mich wieder in meinen alten Werkhof. Und dann geht das Spiel von vorn los. Ich werd da nicht lange bleiben. Aber diesmal hab ich einen Plan. Ich such mir `ne Oma, so `ne uralte mit weißen Haaren, die ganz allein lebt, nicht mehr so richtig durchsieht und niemanden hat, und ich erzähle ihr, ich wär ihre Enkelin. Dann wohne ich bei ihr, geh mit ihr einkaufen und im Park spazieren und solche Sachen.“ (S.257) Hier sieht man, dass Gonzo nicht aufgeben will und immer davon träumt frei zu sein.

Leider verlief es nicht überall so „gut“, wie bei Anja. Viele Flucht- und Widerstandsversuche endeten mit dem Tod oder missglückten gänzlich. Trotzdem ist es erstaunlich, dass die Jugendlichen trotz ihrer schlimmen Erfahrungen und ihrer Aussichtslosigkeit immer noch den Mut hatten zu fliehen oder zu rebellieren. Auch wenn viele scheiterten, sie ließen sich von der Erziehung in den Spezialheimen der DDR nicht unterkriegen und kaputt machen.