Jugendwerkhöfe in der DDR
ein dunkles Kapitel sozialistischer Heimerziehung


 

 

Auswirkungen und Folgen der DDR - Heimerziehung

Torgau, der einzige Geschlossene Jugendwerkhof der DDR war viele Jahre ein Tabuthema. Noch heute weiß ein breiter Teil der Bevölkerung nicht, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. Viele Jahre lang galt dieses brisante Thema als ein Tabu. Noch heute weiß ein breiter Teil der Bevölkerung nicht, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. Die Aufarbeitung der Verbrechen beginnt nur sehr langsam. Im Ort schwieg man lange, aus Scham und auch aus Angst.

Über die Zeit im Jugendwerkhof sprechen die meisten ehemaligen Insassen auch heute noch nicht.

Viele der damals Jugendlichen schafften es nicht, das Erlebte zu verarbeiten und zu verkraften. Schon einzig und allein der Gedanke an die schrecklichen Vorkommnisse lässt Panik in ihnen aufsteigen. Die nackte Angst packt sie, sobald nur der Name „Torgau“ genannt wird, der sie an die Zeit erinnert. Die damals Jugendlichen werden von Schweißausbrüchen heimgesucht, die Gänsehaut kriecht ihnen den Rücken herauf. Sie wünschen sich, dass es die Zeit im Jugendwerkhof nie gegeben hätte. Viele schämen sich. Viele haben geschwiegen, heruntergeschluckt, in sich hineingefressen. Und viele tun es immer noch.

Nahezu alle der ehemaligen Insassen wären an den Folgen der „Erziehung“ fast zugrunde gegangen. Viele sind körperlich und seelisch erkrankt und müssen selbst heute noch behandelt werden. Schlafstörungen und tiefes Misstrauen gegenüber Fremden sind bei vielen der Ehemaligen festzustellen. Manche träumen auch heute noch nachts von den Zellen, in denen sie eingesperrt waren. Durch den Drillsport und die Misshandlungen erlitten viele ehemalige Insassen bleibende physische Schäden.

Eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte „Geschlossener Jugendwerkhof Torgau“ sagte, dass das Leben nach einem Aufenthalt in besagtem Jugendwerkhof „futsch“ sei. Diese Aussage unterstreichen die gravierenden Probleme, mit denen sehr viele auch heute noch zu kämpfen haben.

"Sie wollten mich brechen, und das haben sie auch geschafft", sagte ein ehemaliger „Zögling“ des Jugendwerkhofs Torgau. Viele haben sie gebrochen. Man nahm den Jugendlichen ihre Kindheit, ihre Jugend und noch dazu ihre Perspektiven für die Zukunft. Wenn die Jugendlichen nach einiger Zeit zurück in ihren Stammjugendwerkhof gebracht wurden, fielen viele von ihnen meistens nicht mehr auf. Sie ordneten sich unter. Sie waren fähig für den Sozialismus. Sie hatten das Prinzip verstanden: „Nicht aufmucken und Schnauze halten.“

Für kaum einen ehemaligen Insassen eines Jugendwerkhofes war es möglich, später einen Beruf ihrer freien Wahl auszuüben. Wenn sie überhaupt eine Ausbildung hatten, schränkte diese ihre Berufswahl sehr stark ein. In jedem Zeugnis wurde der Aufenthalt in einem Jugendwerkhof vermerkt, was dazu führte, dass man oft als „asozial“ angesehen wurde und einem Jobangebote ausgeschlagen wurden. Daran sieht man, was für schwerwiegende Auswirkungen ein Aufenthalt im Jugendwerkhof für das spätere Leben eines ehemaligen Insassen mit sich bringt.

Viele dieser Menschen haben noch heute Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl. Sie fühlen sich schnell schuldig, hatte man ihnen doch lange Zeit erzählt sie seien schlechte Menschen.

Die, die stark genug sind, sich ihrer Angst zu stellen, reisen zurück an die Orte des Schreckens, um das Erlebte zu verarbeiten.

Schwere sexuelle Übergriffe durch Erzieher wurden publik. Michael Wildt, Projektleiter des Vereins Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, erhielt Berichte über sexuellen Missbrauch in z.B. Eilenburg und Pretzsch bei Wittenberg. Mehr als 160 ehemalige Insassen verschiedener Jugendwerkhöfe und Spezialkinderheime meldeten sich allein in Thüringen beim Landesberater für SED-Opfer Manfred May mit ähnlichen Berichten.

Heutzutage fühlen sich immer noch viele ehemalige Insassen von Jugendwerkhöfen als benachteiligt. In einigen Teilen der Bevölkerung gelten sie auch heute noch als „Asoziale“.

Einigen Betroffenen hilft es, mit anderen Ehemaligen das Erlebte zu reden. Es hilft ihnen damit umzugehen.

Andere versuchten ehemalige Erzieher aufzusuchen und zur Rede zu stellen. Sie wünschten eine Gegenüberstellung mit ihren damaligen Peinigern. Dies gelang jedoch nicht. In einem Fall wollte man den Namen der Erzieherin nicht preisgeben und teilte ihn der Betroffenen erst nach dem Tod der Mitarbeiterin der Jugendhilfe mit, in einem anderen Fall ergriff die Aufseherin die Flucht.

Es gab Publikationen von Büchern, die entweder die Betroffenen selbst geschrieben haben oder an denen sie mitwirkten. Beispielhaft dafür ist das Buch „Weggesperrt“ von Grit Poppe.

Ohne therapeutische Betreuung wären wohl sehr viele der ehemaligen Insassen daran zugrunde gegangen. Professionelle therapeutische Hilfe benötigte so gut wie jeder von ihnen. Sonst wäre das Verarbeiten der Geschehnisse undenkbar.

Andere Betroffene engagieren sich in verschiedenen Jugendprojekten und führen Zeitzeugengespräche. Sie halten Vorträge an Schulen, berichten der Öffentlichkeit von den Jugendwerkhöfen und sprechen Themen an, die von unserer Gesellschaft auch heutzutage noch oft abgelehnt werden. Sie versuchen die Geschichte aufzuarbeiten.

Kerstin Kuzia, die leider selbst im Jugendwerkhof Torgau einsaß, unterstützt die Choreographin Golde Grunske aus Cottbus, die an zwei Tanzprojekten namens „Schocktherapie“ und „Das vergiftete Leben danach“ arbeitet, das speziell für ehemalige Insassen der Jugendwerkhöfe geeignet ist und ihnen helfen soll.

Es kam außerdem zu mehreren Anzeigen gegen ihre Peiniger, die jedoch entweder eingestellt wurden oder als verjährt gelten. Traurig ist, dass heutzutage viele der ehemaligen Erzieher erneut als Pädagogen arbeiten.

Nicht nur die ehemaligen Insassen der Jugendwerkhöfe wurden zu Opfern des Sozialismus, sondern auch deren Familien und Angehörige litten darunter. Im Falle von Kathrin Begoin versuchten die Eltern alles in ihrer Macht stehende, um ihre Tochter aus den Fängen der Jugendhilfe zu befreien. Viel ausrichten konnten sie jedoch nicht. Kathrins Eltern litten schreckliche Qualen unter der Abwesenheit ihrer geliebten Tochter. Die Familie zerbrach fast an den Sorgen und Problemen. Vielen anderen Eltern und Angehörigen der Insassen erging es ähnlich. Einige von ihnen haben heute noch mit psychischen Problemen zu kämpfen.

Im Jahre 2009 richtete man im ehemaligen Jugendwerkhof Torgau mit Namen „Ich bin als Mensch geboren und ich will als Mensch hier raus“ eine Dauerausstellung ein. Damit will man der Öffentlichkeit das Thema Heimerziehung in der DDR näherbringen.


Teile der Ausstellung „Ich bin als Mensch geboren und ich will als Mensch hier raus“


Abgesehen davon arbeiteten viele ehemalige Insassen an der Ausstellung mit, was ihnen zum Teil als Therapie diente. Zwei Bundesministerinnen, Kristina Schröder und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, besichtigten die Gedenkstätte. Daraufhin entschied man sich für die Verlängerung der Verjährungsfrist für Schadensersatzansprüche von 30 Jahren. Das gibt einigen Opfern die Möglichkeit, doch noch gegen ihre Peiniger vorzugehen und diese zur Rechenschaft zu ziehen.

Im Jahre 2004 wurde die Unterbringung im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau für rechtswidrig erklärt. Jedoch muss man sagen, dass eine völlige Entschädigung für das, was den ehemaligen Insassen angetan wurde, schlicht und ergreifend nicht möglich ist. Die zerstörte Würde eines Menschen begleitet ihn sein Leben lang. Weder Geld, noch Rache oder Vergeltung können daran etwas ändern. Die Opfer der Heimerziehung in der DDR, insbesondere der Jugendwerkhöfe, gelten heute zum Teil als schwerbehindert. Viele von ihnen sind gebrochene Menschen, die ihre Kindheit und Jugend nie mehr zurückerlangen werden.

Was damals geschah, gilt leider auch heutzutage noch in einem großen Teil der Bevölkerung viel zu oft als ein Tabuthema. Nur wenige wissen, was wirklich passierte und viele weisen nicht einmal das Interesse daran auf, mehr darüber zu erfahren.

Unsere Gesellschaft muss informiert und aufgeklärt werden. Sie muss sich mit diesem dunklen Thema der DDR – Geschichte befassen und darf die Augen nicht davor verschließen. Einige, die wissen, was wirklich in den Heimen der DDR geschah, verharmlosen das Vorgefallene und suchen die Schuld für den Aufenthalt bei den ehemaligen Insassen selbst. So etwas darf nicht vorkommen. Unsere Gesellschaft muss erkennen, dass die Jugendlichen, die damals in Jugendwerkhöfe eingewiesen wurden, unschuldige, normale, junge Menschen waren, die rein gar nichts verbrochen hatten, sondern sich nur dem System des Sozialismus widersetzten. Man sollte diese gebrochenen, verletzten Menschen nicht von der Gesellschaft ausschließen, sondern ihnen die Möglichkeit auf ein –insofern das noch möglich ist- angenehmes Leben zu geben und niemanden be- und verurteilen, ohne dessen Geschichte zu kennen. Ein fröhliches, unbeschwertes Leben wird keiner der ehemaligen Insassen je wieder führen können.